Auszug aus Anna’s Geschichte

“Wenn du in einer Stadt am Meer geboren wirst, vermischt sich der Puls mit dem Rhythmus des Meeres und die Träume werden von den langen Wellen sanft geschaukelt, dort am Horizont, wo unten und oben, rechts und links eins werden, dort kommst du zur Ruhe.“

Meine ersten Erinnerungen verbinde ich sehr stark mit mediterranen Eindrücken: viel Licht und Sonne, den typischen Gerüchen und dem Meer. Meine ersten 18 Monate habe ich in Palermo gelebt, vom 21. Juni 1933 bis zum Winter des darauffolgenden Jahres.

Als ich ca. 1 ½ Jahre alt war, gab es einen traumatischen Einschnitt in meinem Leben: der Umzug meiner Familie nach Mailand in die Wohnung eines Onkels. Eigentlich sollten wir nach Genua umziehen, aber die Wohnung dort war noch nicht fertig und so haben wir die Wartezeit in Mailand überbrückt. Es war ein Schock: es war klirrend kalt, neblig und ich kann mich an riesige Werbeplakate mit übergroßen Gesichtern erinnern, die sich sehr bedrohlich zu mir herunter zu beugen schienen.

Es kommt mir jetzt so vor, als seien die Gefühle, die ich damals hatte, übertrieben gewesen. Ich glaube, dass wir den Blick in die Vergangenheit ungewollt durch den Erinnerungsprozess verfälschen, mit Bildern, Erzählungen, Dokumenten aus späteren Zeiten überlagern und verwischen, sodass sie nicht mehr klar nebeneinander stehen und es uns schwer fällt, sie klar zu unterscheiden; so als ob mehrere durcheinander gepurzelte Diapositive übereinander liegen. Aber dieser Ortswechsel ist in meiner Erinnerung als unendlich furchterregend abgespeichert. Die Wohnung, in der ich mich nicht zu Hause fühlte, die Reise im Zug, die ich gar nicht leiden konnte und die kein Ende zu nehmen schien.

Erst als ich älter war, wurden Juden in Zügen transportiert. Ich habe diesen Teil der Geschichte und meine Erinnerung an die Zugfahrt jedoch miteinander verschmolzen. Die Reise mit meinen Eltern in den Norden fand im Winter 1934/35 statt. Darüber gibt es keinen Zweifel. Da gab es noch keine verplombten Waggons mit Juden in Italien und trotzdem gehören diese beiden Ereignisse für mich untrennbar zusammen. Ich habe immer in der Gewissheit gelebt, dass ich diese horrenden Transporte miterlebt habe.

Wir sind dann nach Genua umgezogen, wo es mir wieder gut gefallen hat. Wir wohnten in einer Wohnung des damals modernen Palazzo Superba im gleichnamigen, höher gelegenen Stadtteil im 3. Stock. Von dort hatten wir einen Blick bis zum Meer. Es war wieder eine Stadt mit viel Sonne und Licht und einem Hafen, wunderbaren Parks und guten Gerüchen.

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1970. Indien. Im Januar 1970 war es dann soweit. Wir verließen Genua auf dem Luxusschiff „Vittoria di Trieste“ in Richtung Indien. .......Es war eine kleine, polyglotte Welt, in der einfach alles passierte; zwischen Passagieren und Offizieren, Ehefrauen, die ihre Männer betrogen, Klatsch und Tratsch ohne Ende, wer mit wem und mit wem nicht und mit ständig anderen. In den verschiedenen Häfen kamen Leute an Bord neu hinzu oder verließen es, denn es war keine Kreuzfahrt, sondern ein echtes Passagierschiff, für diejenigen, die in Afrika bzw. Indien lebten und arbeiteten.

Warum fängt in unserem Leben in wichtigen Momenten nicht eine Lampe an zu blinken, um uns zu signalisieren: Achtung, aufgepasst, jetzt erlebst du einen der wichtigsten Momente in deinem Leben! Ich hätte wenigstens ein Reisetagebuch führen sollen, um festzuhalten, wo wir überall angelegt haben! Schade!

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Dabei fällt mir der Sonnenaufgang bei unserer Einfahrt in den Hafen von Bombay um vier Uhr morgens ein. Das ist in Indien wirklich einer der magischsten Momente. Den Himmel an dem Morgen werde ich nie vergessen. Es war noch Nacht, aber in Richtung Osten war ein roter Streifen zu sehen. Vor uns der Hafen, der Kai, die Kräne, überall Raben, die auf Beute hoffen und der typische Geruch Indiens, der sich aus Millionen von Räucherstäbchen, Verwesung, Abfall und Blumen zusammensetzt. In dem Moment hatte ich nicht den geringsten Zweifel daran, dass meine Entscheidung dorthin zu reisen richtig war, egal was kommen würde.

 

 

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1974. Ich beschloss dann, mir ein Haus in der Toskana zu kaufen, die ich gerade erst entdeckt hatte. .....Als ich Petreto sah, wusste ich sofort: das ist es! Es war das Haus, welches in einem schlimmen Zustand war, kein Licht, kein Wasser, keine Straße, kein Telefon und das teuerste von allen (6 Millionen Lire damals), aber es war absolut magisch! Aus der Küchentür trat man heraus auf eine kleine Wiese vor dem Haus und sah durch die Zweige der Olivenbäume Richtung Westen über das ganze Val di Chio hinweg auf die Silhouette von Castiglion-Fiorentino in der Ferne. Die grün-silbrigen Blätter blinkerten im Sonnenlicht rund um mich herum. Zu dem Grundstück gehörten gut einhundert Ölbäume, die sich auf den ansteigenden Terrassen hinter dem Haus und vor mir in sanfter Neigung zum Tal hinunter verteilten.  Linker Hand waren Felder, an welche sich ein Hügel mit einem dicht bewachsenen Wald anschloss. Dieser Hügel nahm mir zwar die Sicht auf den Monte Amiata im Süden, schirmte mich jedoch auf beschützende Weise gegen den Rest der Welt ab. Rechts von mir, abgegrenzt durch einen wild gewachsenen Lorbeerbaum, war der ideale Ort, um einen Garten anzulegen.

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Wie oft war das Haus voll mit Freunden und Kindern! Unsere Gelage unter dem Wein vor der Küche mit dem Blick über das Tal, wie herrlich! Ich hatte eine große Tischdecke angefertigt, auf der jeder in einem kleinen Quadrat mit seinem Namen oder einer gestickten Zeichnung verewigt war. Die Hängematte zwischen den beiden Olivenbäumen, die den Essplatz zur nächsten abfallenden Terrasse begrenzten, war immer von jemandem besetzt. Es war das Schönste, sich sanft schaukeln zu lassen und dabei den Sonnenuntergang zu beobachten.

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2007. Wenn ich heute jemandem sagen sollte, was er oder sie im Leben machen oder auch nicht machen sollte? Ich habe nicht den blassesten Schimmer. Je älter ich werde, desto weniger weiß ich und desto mehr unbeantwortete Fragen gibt es.